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Titel
Fremdheit. Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart


Autor(en)
Heinrichs, Hans-Jürgen
Erschienen
München 2019: Antje Kunstmann
Anzahl Seiten
245 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Hans Peter Hahn, Institut für Ethnologie, Goethe Universität Frankfurt am Main

Der Fremde, das Fremdsein und die Fremdheit sind mit Recht als Lebensthemen von Hans-Jürgen Heinrichs zu bezeichnen. Zahlreiche seiner früheren Werke, auf die er selbst verweist (S. 227), belegen dies. Wie zu ergänzen wäre, waren diese Themen über die Jahrzehnte seines Schaffens auch stets aktuell, sowohl politisch als auch im Hinblick auf die Debatten über Kultur und Gesellschaft. Wahrscheinlich ist es nicht übertrieben, festzustellen, dass „Fremdheit“ überhaupt ein Schlüsselthema der Moderne ist. Die moderne Gesellschaft braucht den Diskurs über das „Fremde“ und zudem die – stets fragwürdige – Bestimmung des „Fremden“ als Mittel der Abgrenzung wie der Selbstvergewisserung, wie unter anderen Erhard Schüttpelz oder Iris Därmann1 überzeugend herausgestellt haben. Die Produktivität des Fremdheitsbegriffes ist in den Geschichtswissenschaften ebenfalls signifikant, wie beispielsweise David Lowenthal oder Alexander Demandt in verschiedenen Kontexten herausgearbeitet haben.

Das vorliegende Werk knüpft also an einen großen und wichtigen Diskurs an. Dies erfolgt in einer spezifischen Weise, indem nämlich Ethnologie und Ethnopsychoanalyse, Phänomenologie und Belletristik miteinander verknüpft werden. Der Autor nimmt sich die Freiheit, dies nicht in systematischer Weise, sondern durchweg eingebettet in autobiographische Erzählungen oder das aktuelle politische Geschehen zu präsentieren. Die fachliche Orientierung zusammen mit dem zwischen persönlichem Erinnern und politischem Zeitgeschehen oszillierenden anekdotischen Zugang lässt das vorliegende Werk als ein experimentelles Unterfangen erscheinen. Wie der Autor selbst versichert, besteht sein Erkenntnisinteresse darin, Autobiographie als Fremdheitserkundung zu nutzen. Dabei räumt er ein, dass die Überfülle der verfügbaren Geschichten es ihm immer wieder schwer gemacht hat, die Balance zwischen Geschichte und Lebensgeschichte zu finden. Dieses Begriffspaar korreliert mit der „großen“ politischen Geschichte und den kleinen, biographischen und notwendig subjektiven Anekdoten.

Heinrichs Aneignung der Erfahrbarkeit von Fremdheit ist deshalb durch das ganze Buch durchgehend an zwei Begriffspaare gebunden: subjektiv und objektiv, positiv und negativ. Tendenziell ist dabei die subjektive Fremdheitserfahrung positiv, die objektivierenden Tendenzen werden jedoch negativ besetzt. Wenig verwunderlich, dass die positiven Fremdheitserfahrungen mit Offenheit, Neugier und Selbstentgrenzung konnotiert sind, wohingegen die Begriffe der Angst und Ausgrenzung immer wieder Kollektiven zugewiesen und als Ursache für Abgrenzungen und Xenophobie dargestellt werden. Allerdings wäre zu fragen, ob es tatsächlich Belege gibt für den in diesem Buch überwiegend pessimistischen Befund der „Überreizung der Gegenwart“ (S. 43), die nach Heinrichs zu einer zunehmend negativen Sicht auf das Fremde führe. Wichtiger scheint es, zu klären, was überhaupt die Beschäftigung mit den notorisch instabilen Vorstellungen vom „Fremden“ antreibt.

Es ist absolut nachvollziehbar, dass der Autor literarische (unter anderem Segalen, Leiris, Fichte, Chatwin, Trojanow) und künstlerische (etwa von Anselm Kiefer) Artikulationen als positive Beispiele herausstellt. So richtig es ist, auf die konstitutive Ambivalenz, die Janusgestalt von Abwehr (= Angst, Reduktion auf Stereotype) und Begehren (= Bewunderung, Aufwertung) zu verweisen, so wenig klärt der Autor die Frage, wann außerhalb der Kunst überhaupt die Möglichkeit einer selbstbestimmten Zuwendung zu dem Fremden besteht. Es geht dabei nicht um den – von Heinrichs als Anekdote geschilderten – Irrtum, im falschen Moment Vertrautheit zu empfinden, wo doch Fremdheit und Distanz angebracht wären. Es geht vielmehr grundsätzlich um die Verfügbarkeit einer Entscheidung zwischen „Fremdheit als Bereicherung“ oder „Fremdheit als Bedrohung“. Möglicherweise ist die jeweils dominierende Perspektive der „Fremdheit“ für sehr viele Menschen nicht wählbar. Wenn Fremdheit schon einmal in ein Schema gepresst wird, so ist die Bewertung sehr wahrscheinlich nicht immer ins Belieben der Betroffenen gestellt.

Diese Unverfügbarkeit der Fremdheit, mit allen gefährlichen Konsequenzen, nicht hinreichend berücksichtigt zu haben, ist eine Art „blinder Fleck“, der sich durch das Buch hindurchzieht. Es ist wenig überzeugend, scheinbar unnötigen Abgrenzungen, zum Beispiel im Kontext politisch instrumentalisierter Fremdheit, einfach mit dem Imperativ „Wir müssen“ (S. 44) entgegenzutreten. Es ist auch nicht klar, ob der Kippeffekt zwischen akzeptierter, bereichernder Fremdheit einerseits und andererseits der Fremdheit als Bedrohung tatsächlich mit dem dauerhaften Sich-Einlassen auf das Andere beziehungsweise den Anderen oder aber mit der „tagesaktuellen Konfrontation“ auf der anderen Seite verknüpft werden kann. Es wäre vielmehr zu fragen, wann und bei welchen Personen die von Heinrichs empfohlene „Introspektion“ als Heilmittel gegen falsche Essentialisierung möglich sein könnte.

Dem Autor ist unbedingt zuzustimmen, wenn er mehrfach die Universalität der Fremdheit betont. In jedem Leben gibt es Momente der Fremdheit, wie auch solche, in denen erst im Rückblick Fremdheit empfunden wird. Sogar in der Liebe als einer engen und vertrauten Beziehung kann es eine Dynamik der Fremdheit geben, die entweder Anziehung ausmacht oder aber das Ende dieser Beziehung einleitet (S. 200). Menschen leben miteinander und ertragen es, sich dauernd oder immer wieder einander fremd zu fühlen (S. 61).

Dabei stellt Heinrichs mehrfach heraus, wie eng negative und positive Effekte nebeneinander liegen. Das gilt zum Beispiel auch für die Reportage, bei der Engagement und Voyeurismus sich mitunter nur durch Nuancen unterscheiden (S. 160–164). Heinrichs verweist hier auf den Kontext der Berichterstattung über die sogenannte „Flüchtlingskrise“ des Jahren 2015 und bezeichnet das dazugehörige Reportagebuch von Patrick Kingsley2 als gelungenes Beispiel eines angemessenen Ethos (S. 165). Ist das nun ein Beitrag zur Überwindung von kollektiven Fremdheitsphantasien? Der Autor verzichtet auf eine abschließende Einordnung; und es steht zu vermuten, dass nicht diese Reportage als solche, sondern der Leser darüber entscheidet, ob hier Nähe und Vertrautheit oder aber radikale Fremdheit präsentiert werden.

Heinrichs empfiehlt dem Leser den methodischen Weg der Ethnopsychoanalyse, um Fremdheitserfahrungen ins Positive zu wenden und damit als Erweiterung des persönlichen Horizonts zu verstehen. Auch wenn es grundsätzlich wichtig ist, die innere Reise, also die Entdeckung des Selbst als einen Weg der Erfahrung von Fremdheit zu verstehen, so muss jedoch auch angemerkt werden, dass die Konventionen des Berichts, die er von Florence Weiss übernimmt, nicht geeignet sind, Alterität und damit die problematische Kollektivierung des Fremdseins zu überwinden. Florence Weiss als Ethnologin belässt nämlich ihre Dialogpartnerinnen im Unbestimmten. Sie berichtet von der „der Iatmul Frau“. Solange eine Gegenüberstellung von der namentlich genannten Wissenschaftlerin und der anonymen Angehörigen einer ethnischen Gruppe unhinterfragt bestehen bleibt, muss sich die Ethnopsychoanalyse insgesamt der Frage stellen, ob sie problematischen Fremdheitskonstruktionen nicht doch eher Vorschub leistet, anstatt sie zu überwinden.

Es gab vor einigen Jahrzehnten einmal die Idee eines Studiengangs der „Xenologie“. Diese Idee ist niemals verwirklicht worden, da der Begriff der Fremdheit zu viele Facetten kennt und jede objektivierende Definition ein politisches Werkzeug werden kann. Auch wenn es Einführungswerke zum Begriff und Theorien des Fremden gibt (zum Beispiel von Wolfgang Müller-Funk3), so bleibt es bei den durch Emmanuel Lévinas und Bernhard Waldenfels4 so eindringlich beschriebenen Grenzen der Bestimmbarkeit dieses Begriffs. Ihnen zufolge ist jeder Versuch eines direkten Zugriffs auf „Fremdheit“ vergebens, weil dieser Begriff immer nur relational verstanden werden kann. „Das Fremde“ bleibt stets unbestimmbar, lediglich „das Fremde für ...“ lässt sich näher eingrenzen und einer Bewertung unterziehen. Dieser Grenze der Bestimmbarkeit unterliegen auch die von Heinrichs präsentierten Zugänge zu Fremdheit, auch wenn er die Unmöglichkeit, „das Fremde“ zu greifen, nicht thematisiert.

Welchen Gewinn zieht der Leser trotz der zahlreichen unbeantworteten Fragen, trotz der nicht immer nachvollziehbaren Aufwertung bestimmter Positionen (Ethnopsychoanalyse, Literatur und Kunst)? Im Vergleich mit dem erwähnten wissenschaftlichen Zugriff von Müller-Funk hat das Werk von Heinrichs durchaus seinen besonderen Wert. Mehr als in einem wissenschaftlichen Werk gelingt es ihm, die Unmittelbarkeit der Fremdheitserfahrung dem Leser und der Leserin nahe zu bringen. Nicht in den Antworten und in den Imperativen liegt die Stärke, sondern in den widersprüchlichen und oftmals fragmentarischen Annäherungen an Fremdes oder – wenigstens – scheinbar Fremdes.

Anmerkungen:
1 Erhard Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960), Paderborn 2005; Iris Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München 2005.
2 Patrick Kingsley, Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, München 2016.
3 Wolfgang Müller-Funk, Theorien des Fremden. Eine Einführung, Tübingen 2016.
4 Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, München 1987; Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997.